“Ein Knochenjob für die Psyche”
Helena Lackenberger, Lajla Mustafic, Annabel Sophie Wagner studieren an der Universität für Bodenkultur in Wien und haben im Rahmen des Seminars “Agrarpublizistik” den nachstehenden Artikel recherchiert und verfasst.
Ich durfte die drei engagierten Studentinnen bei einem meiner Vorträge über Sozialkapital und Hofnachfolge kennen lernen und wurde dabei von ihnen interviewt. Wir freuen uns, dass wir ihre Arbeit als Gastbeitrag auf waldgarten.global veröffentlichen dürfen und wünschen allen Leserinnen und Lesern, dass sie – soweit es sie betrifft – gut und gestärkt aus den beschriebenen oder ähnlichen Lebenssituationen heraustreten.
Die Berufsgruppe der Landwirt*innen weist laut einer Studie das höchste Suizidrisiko auf
Ein Gastbeitrag
von: Helena Lackenberger, Lajla Mustafic, Annabel Sophie Wagner
Seminararbeit im Fach “Agrarpublizistik” an der Universität für Bodenkultur, Wien, 2023
Wie tief stecken allenfalls Österreichs Landwirt*innen in seelischen Krisen, was assoziieren Studierende der BOKU mit psychischen Belastungen in der Landwirtschaft und wie sichtbar ist das vermeintliche Tabuthema in Online-Agrarmedien?
In Österreich weist die Berufsgruppe der Landwirt*innen laut einer von Hoffmann 2020 erstellten Studie das höchste Suizidrisiko auf. In Frankreich lag gemäß einer Befragung der französischen Gesundheitsbehörde von 2010 bis 2011 die Selbstmordrate bei französischen Bäuerinnen und Bauern um 20 Prozent höher als im Durchschnitt der gesamten Bevölkerung. Bei männlichen Rindviehhaltern erreicht der Wert sogar 30 Prozent. Konkret bedeutet dies, dass sich jeden zweiten Tag ein*e Landwirt*in das Leben nahm.
Der Beruf der Landwirt*innen gilt in erster Linie als körperlich anspruchsvoll. Die psychische Belastung des agrarischen landwirtschaftlichen Alltags bleibt oft ausgeblendet. Ein Blick in den Jahresbericht “Lebensqualität Bauernhof” von 2021 zeigt, was die Landwirt*innen in Österreich besonders stark beschäftigt: Generationenkonflikte, Partnerschaftskonflikte, Hofübernahme/Hofübergabe sowie Verschuldung bringen manche Landwirt*innen auf Dauer an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit. Diese kräftezehrenden Situationen verursachen psychische Erkrankungen wie Burnout, Depressionen und Alkoholismus.
Studierende der Agrarwissenschaften der BOKU assoziieren bei einer kleinen Spontanumfrage mit psychischen Belastungen in der Landwirtschaft vor allem hohe Arbeitsbelastung, Familienkonflikte, Burnout, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Druck sowie Hofübernahme und Hofübergabe.
Dass Studierende mit Bezug zur agrarischen Arbeitslandschaft für diese psychische Belastungen sensibilisiert sind, verwundert wenig. Doch wie gut waren Sichtbarkeit und damit verbunden die Bewusstseinsbildung in österreichischen Online-Agrarmedien im Jahr 2022? Das Onlineportal der Fachzeitschrift „Landwirt” wird monatlich von 36.000 Usern aufgerufen, die Webseite von “TopAgrar” hat pro Monat etwa 2,5 Mio. Besucher und fast 9 Mio. Seitenaufrufe: Reichweiten, die wesentlich dabei helfen können, psychische Belastungen und Erkrankungen zu enttabuisieren.
Eine Stichwortsuche auf den Webportalen der Landwirtschaftskammern Österreich, des „Landwirt“ und “TopAgrar Österreich” gibt Aufschluss über die Präsenz psychischer Belastungen. Die Schlagworte beziehen sich auf den Bericht “Lebensqualität Österreich” aus dem Jahr 2021.
Die Suche nach “Konflikte Familie” und “Konflikte Partnerschaft” ergab mit insgesamt 19 Resultaten bei “Landwirt” und “TopAgrar Österreich” die höchste Trefferzahl. “Überforderung”, “psychische Erkrankungen” als Oberbegriffe, sowie “Burnout” und “Depression” als Krankheitsbilder lieferten zusammen 17 Ergebnisse. Jeweils elf Artikel befassen sich mit “Generationenkonflikte” und “Hofübernahme” bzw. “Hofübergabe”. Sieben Beiträge thematisierten die Pflege Angehöriger, jeweils zwei betreffen „Schulden” und “Finanzprobleme” sowie “Suizid”. Keinen aktuellen Treffer ergab die Stichwortsuche nach “Suchterkrankungen”.
Die Online-Artikel empfehlen u.a. Wert auf Kommunikation zu legen, um Konflikte in der Familie und in der Partnerschaft zu vermeiden. Eine Vielzahl von Beiträgen geben Tipps zum Erkennen und Bewältigen von psychischen Krisen. Außerdem wird auf das bäuerliche Sorgentelefon verwiesen, das betroffene Landwirt*innen in Anspruch nehmen können. Persönliche Schicksale von psychischer Belastung thematisieren die Berichte hingegen kaum.
Hilfesuchende wenden sich an psychosoziale Beratungsstellen, die beispielsweise die Landwirtschaftskammer österreichweit anbietet. Im Jahr 2021 kontaktierten laut den Landes-Landwirtschaftskammern 629 Landwirt*innen die psychosozialen Berater*innen der Initiative “Lebensqualität Bauernhof”. Die Betroffenen suchen vorrangig Gesprächspartner*innen, die ihnen zuhören. Überdies helfen die Beratungsstellen, Probleme zu erkennen und zu strukturieren sowie Handlungsansätze und Entscheidungen zu finden. In Frankreich errichtete die Agrarkrankenkasse MSA eine Telefonberatung namens Agri-Ecoute (Agrar-Zuhören), um den steigenden Suiziden entgegenzuwirken. Dieses Angebot beanspruchen jeden Monat 200 Landwirt*innen. 60 Prozent rufen wegen persönlicher Probleme an, 40 Prozent wegen beruflich-finanzieller Schwierigkeiten.
Dr. Reinhard Engelhart, selbst Landwirt mit eigenem Bio-Gemüsebetrieb, arbeitete sieben Jahre lang beim Bäuerlichen Sorgentelefon der Landwirtschaftskammer. In rund 300 Vor-Ort-Beratungen unterstützte er Landwirt*innen bei der Bewältigung von Krisen. Aus Erfahrung weiß er: “Die Beratungen betrafen am häufigsten die Hofnachfolge, Beziehungsprobleme, Generationskonflikte, wirtschaftliche Schwierigkeiten am Betrieb, Nachbarschaftskonflikte sowie psychische Erkrankungen. Persönliche und zwischenmenschliche Probleme belasten bäuerliche Familien oft stärker als wirtschaftliche Herausforderungen. Die Arbeit am und für den Hof nimmt häufig einen zu großen Stellenwert ein und wird über die Bedürfnisse der am Hof lebenden Menschen gestellt. Ich konnte viele Erfahrungen, speziell in Bezug auf die Hofnachfolge und die innerfamiliäre Kommunikation aus meiner Tätigkeit für unseren eigenen Betrieb mitnehmen und anwenden.” Dr. Engelhart rät Studierenden der BOKU, die später einmal selbst in einem landwirtschaftlichen Betrieb arbeiten werden: “Wichtig sind Selbstreflexion, die Bereitschaft, offen und wertschätzend über Probleme zu sprechen und gegebenenfalls Hilfe in Anspruch zu nehmen, zum Beispiel in Form von Beratung, Coaching oder Psychotherapie. Achtet zudem auf eine gute Work-Life-Balance. Die eigenen Bedürfnisse sollten nicht in den Hintergrund gestellt werden.”
Physischer und psychischer Druck in der Landwirtschaft sind ein multifaktorielles Problem mit schweren Folgen für die Gesundheit der Bauern und Bäuerinnen. Trotz einiger Anlaufstellen nehmen nicht alle Betroffenen deren Angebot an. Versagensängste und die Scham, mit ihren eigenen Problemen nicht zurecht zu kommen, können Landwirt*innen daran hindern, sich professionelle Unterstützung zu holen. Es gilt: Nur wer aktiv nach Hilfe sucht, dem kann am Ende geholfen werden!
Die Autorinnen haben diesen Beitrag im Rahmen der von ao. Univ. Prof. Hans Karl Wytrzens geleiteten Lehrveranstaltung „Agrarpublizistik“ an der Universität für Bodenkultur Wien recherchiert und verfasst.
Autorinnen:
Helena Lackenberger, Lajla Mustafic, Annabel Sophie Wagner
Hilfe in Krisen
Für Landwirt*innen in Krisensituationen und deren Angehörige gibt es eine Reihe von Anlaufstellen:
Bäuerliches Sorgentelefon:
Montag bis Freitag 8:30 bis 12:30
Telefonnummer 0810 / 676 810
Website: www.lebensqualitaet-bauernhof.at
Telefonseelsorge Österreich:
täglich 24 Stunden erreichbar
Telefonnummer 142
Website: www.telefonseelsorge.at
E-Mail- und Chatberatung:
Notrufnummern und erste Hilfe bei Suizidgedanken:
www.suizid-praevention.gv.at
Telefonische Hilfe:
Psychiatrische Soforthilfe (0–24 Uhr): 01/313 30
Sozialpsychiatrischer Notdienst: 01/310 87 79
Ein herzliches Dankeschön an die drei Autorinnen, dass sie sich dem Thema psychische Belastungen auf landwirtschaftlichen Betrieben angenommen haben. Wir wünschen weiterhin viel Erfolg beim Studium und möchten mit der Veröffentlichung des Artikels auch andere Leser/innen ermutigen, einen Gastbeitrag zu schreiben.
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